Patagonien – Warten aufs Window

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Whillans

20, 21, 22 und vorbei an den 23 kg der erlaubten Gepäcks-Gewichtsgrenze, um schlussendlich bei 25,9 kg stehen zu bleiben – skeptischer Blick zur Schalterstewardess, ein verzogener Mundwinkel – Stille am hektischen und sonst so turbulenten Flughafen in München.

„Sind die anderen 3 Gepäckstücke auch so schwer? Dann muss ich euch für jedes doppelt verrechnen.“

Wie brave Schulbuben verneinen wir nervös und versuchen unsere Aussage mit leicht verlegenem Kopfschütteln zu bekräftigen. Mit ausgestreckten Armen und demütig gesenktem Haupt stehen wir vor der netten Dame und versuchen ihr etwas Greifbares liefern zu können, wo sie anknüpfen könnte bzw. uns wohl gesonnen ist.

„Nein, die anderen Packerl sollten passen, wir fliegen quasi auf Expedition, Ausrüstung ist Sicherheit, eh schon Übergepäck bezahlt, eigentlich sind wir ganz lie…“ oder „Vielleicht doch einfach nur arm schaun, bevor wir es übertreiben“ geht uns durch den Kopf und wir verstummen kleinlaut und warten gespannt auf ihre Reaktion. Ein skeptischer und fragender Blick an uns:

„Und euer Handgepäck ist normal groß?“ Wieder energisches Kopfschütteln unsererseits mit leicht errötetem Gesicht und verhaltenem „ Jaa“.

„Na dann check ich euch alles mit 23 kg ein“
„Oh vielen Dank“
„Guten Flug“
„Danke nochmal und schönen Tag“

Wie eine Zweiermauer beim Freistoß im Fußball entfernen wir uns Schulter an Schulter von der Dame und schieben den Wagen mit unserem Handgepäck außer Sichtweite des Schalters. Mit beiden Händen schultern wir unseren Rucksack und gehen „erleichtert“ zur Boarding-Zone. Ich möchte meinen, Überlegungen im Bezug auf Gewicht der Gepäcksstücke sind grundsätzlich Standard bei solchen Reisen, aber die derartige Ausreizung der Grenze ist sicherlich Stefans Spezialität. Beim an Board gehen bekommt Stefans Handgepäck, sagen wir mal, noch eine „spezielle Betreuung“, aber alles kommt an Board… uff geschafft. Um 18 Uhr am nächsten Tag kommen wir nach 36 h Flugzeit mit all unseren Sachen in El Calafate und um 22 Uhr nach einer 3-stündigen Busfahrt in El Chalten an.

 

Die missverständliche Doppelbuchung unseres Appartements mit Ben und Jessy stellte sich als total tolle Verbindung und Einstieg in eine Austro-Amerikanische Bergsteigergruppe heraus. Ben, Tad (ein Wahnsinns-Kerl mit Sinn für Humor siehe Video 1 und Video 2), Klint, Jessy, Joel, Markus und Jonathan sind jedes Jahr 4-5 Monate in El Chalten. Sie kennen so gut wie jeden und wissen alles Nötige, was man rund um diesen Ort wissen sollte. Innerhalb von ein paar Tagen laufen wir auf diese Weise Rolando Garibotti, Thomas Huber, Stefan Sigrist, Colin Haley und anderen alpinistische Größen dieser Region über den Weg. In dieser Szene herrschte wirklich ein alpiner Gleichschlag der Herzen der Personen, die sich so rumtrieben, wodurch alle etwas von Anhieb an stark verbindet.

 

 

Wir waren also wirklich im „Centro Alpino“ gelandet, unsere Unterkunft für die nächsten 30 Tagen.

 

Diese Bergsteigergemeinschaft wirkte für mich wie ein Schwarm Fische, die geschlossen den Alltag verbringen und bei auftauchendem guten Wetter (der metaphorische Fressfeind-Fisch, der in den Schwarm sticht) individuell in alle möglichen Himmelsrichtungen davonströmten. Bei wieder eintreffendem schlechtem Wetter fanden dann alle wieder zum El Chalten-Schwarm zurück, um neue Kräfte zu tanken und in nervöser Ungeduld auf den nächsten Angriff wartend um den Ort rotieren zu können.

 

 

Mit Bouldern, Klettern und Laufen fanden wir eine super Beschäftigung, um auf das ominöse „Window“ zu warten. Nach fünf Tagen wuchs die Ungeduld, etwas außerhalb des Schwarmes am Berg und nicht am 5 Meter hohen Block zu machen, schon ersichtlich. Es zeichnete sich ein „Sucker Hole“ (Einatem-Pause des Windes) oder „Low Pressures Windows“, wie es die Amis bezeichnender Weise nennen, ab. Wir entschieden uns daher für eine kürzere, niedriger gelegene und vor allem bei schneeigen Verhältnissen auch mixed machbare Route.

 

BERICHT
 Poincenot – Whillans-Cochrane M4, 5+, 70°, 550 m

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Wie zu Beginn unserer Reise wurden wir auch nun wieder etwa 3-4 Tagen nach der Whillans-Cochrane-Begehung durch die darauffolgenden intensiven, fast schon einer progressiven Muskelrelaxion ähnelnden Tage, nicht tiefenentspannter, sondern zusehends nervöser und kribbeliger unter den Fingernägeln. Ein sich ankündigendes Schlechtwetterfenster rund um Weihnachten ließ uns Untätigkeit für diese Zeit befürchten, wodurch wir versuchten ein nicht astreines Wetterfenster auszunutzen, bevor Schnee, Wind und somit wieder schlechte Verhältnisse für Tage kommen würden.


Aufgrund des Neuschnees waren die Verhältnisse nicht ganz klar und wir starteten etwas ungewiss und verspätet zum Lager Niponino auf, welches sich am Fuße des Mochos, ein von dem Cerro Torre herabziehender Felsgrat, befindet.

 

BERICHT
 Cerro Standhardt – Exocet WI5+, 5+, 500 m

 

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Zurück von der Tour liefen in El Chalten schon die weihnachtlichen Vorbereitungen auf Hochtouren und wir konnten nette Abende beim Kartenspielen, Buch lesen und Faulenzen gemeinsam verbringen. Das schlechte Wetter konnte also kommen und es kam.

 

Was in Österreich immer so sehr ersehnt wird, aber kaum Wirklichkeit ist, war am 25.12 auf 400 m Meereshöhe im meteorologischen Sommer befindlichen El Chalten möglich – weiße Weihnachten mit Empanadas und Bier. Nach diesen besinnlichen Tagen zog es uns wieder in die raue Bergwelt.

BERICHT
 Fitz Roy – Supercanaleta 1600 m, 80° 5+

 

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Da wir schon zum Zeitpunkt, als wir die Supercanaleta geklettert sind, von dem sich ankündigenden Schönwetterfenster wussten, ließen wir in Vorahnung unser ganzes Material am Piedra Negra, um optional etwas Kleineres an der Aguja Guillaumet, Aguja Mermoz oder doch den Pilar Goretta zu machen. Stefans und mein Schnee- und Eisverlangen waren im Grunde mehr als gedeckt und wir strebten warmen Fels an. Wir sagten immer, wenn noch keiner am Torre war, probieren wir es erst gar nicht, um nicht eine Seillänge unter dem Gipfel umdrehen zu müssen.

Die Motivation kommt und kam jedoch spätestens, als wir zurück nach der Supercanaleta im Ort saßen und wieder den Gipfel aller Gipfel, den Cerro Torre, erblickten. Dieser Berg, der sich so erhaben, majestätisch und trotzdem auf so schlichte Art und Weise in dieses Bergpanorama fügt, zieht unvermeidlich jeden Bergsteiger in seinen Bann. Der Gipfelaufbau des Torres wird mit einem in samtig weißgefärbten aufgesetzten Mushroom gekrönt und bietet wirklich Haubenbergsteigen besten Geschmacks.

„You are gonna go big“ sagte Tad und klopft mir auf die Schulter. Auch wenn der Cerro Torre mit 3104 m nominal niedriger ist wie der Fitz Roy, war die Begehung der Ragni oder Ferrari oder Torre Westwand, wie sie auch genannt wird, doch eine Route, die so einiges an Attribute zollt. Insbesondere, wenn die letzte Seillänge wie bei uns für dieses Jahr bzw. diese Klettersaison aus jungfräulichem „Reim“ bestand und dieses Schnee- / Eisgemisch erst per Hand entfernt werden musste. Dieses Entfernen des Anraums ist eine Heidenarbeit, von der sich alle versuchen, zu drücken. Wir hoben uns diese Route ganz bewusst für das Ende auf, hatten wir doch auch Hoffnung, jemand anderer als wir macht die Wühlarbeit. Nachdem wir fast bis zum Schluss unseres Trips vergebens darauf gewartet hatten, galt es dann doch selbst initiativ zu werden und los zu wühlen.

Vor uns tat sich ein phänomenales Wetterfenster auf und lies uns Tag für Tag, Stunde für Stunde durchrechnen, wie wir die Tour am besten angehen müssen, um pünktlich am 7.01 um 13 Uhr in El Chalten zu sein – unserem Abfahrts- und Rückflugzeitpunkt. Auch den Flug zu verschieben überlegten wir, um nichts unversucht zu lassen. Ein Bergsteiger, der schon über einige Jahre verteilt immer Monate hier verbringt, hat gesagt „Verkauft sofort Teile eurer Ausrüstung und verschiebt den Flug mit dem Geld, das ist ein Window, das erst in paar Jahrzehnten wieder kommen wird“. Diese Aussagen schärfte unsere Vermutung, dass es sich wohl um ein besonderes Ereignis handelt.

 

Wir entschieden uns trotzdem für die „Keep it tight“ Taktik und setzten alles auf Herz-Dame.


Auch wenn wir bei unserem gewählten Plan sicherlich einen eher der schlechteren Tage dieses Schönwetterfensters nutzten und wir zu diesem Zeitpunkt ziemlich wahrscheinlich die letzte Seillänge selbst ausschaufeln müssen, schaute es immer noch nach passablen Bedingungen aus.

 

BERICHT
 Cerro Torre – Ragni 600 m, 90°, WI5+, M4

 

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Das Wetterfenster, welches sich am Ende unseres Trips auftat, ist sicherlich eins „von Jahrzehnten“ und hätte uns für weitere Tage Tourenmöglichkeiten geboten. Wir sind am nächsten Tag jedenfalls mehr als entspannt die 100 m zum Taxi gehumpelt, um in weiterer Folge brav unsere Sitzplätze im Flieger einzunehmen und nach 5 Wochen intensiver Zeit hier in Patagonien total zufrieden bis auf einen ordentlichen Sonnenbrand kerngesund nach Hause fliegen zu können, ja vielleicht besser gesagt zu dürfen.


Epilog

Als ich am Hauptbahnhof in Salzburg mit meinen drei riesen Taschen gefüllt mit 55 kg Luxusfreizeitgeräten einfahre, überkommt mich beim Blick auf die Sackerl bzw. Minirucksack (wo sich wohlweislich all ihr Hab und Gut befindet) tragenden Flüchtlinge ein unermesslich starkes Gefühl der Dekadenz gefolgt von einem Gefühl der totalen Priviligiertheit.

 

“ 5 Wochen Urlaub zu machen, mehrere Tausend Euro in Luxusausrüstung und Flug zu investieren, um dabei 1000 Kilo CO2 und zick Kilogramm verflixtes Plastik bei dem Flugzeugessen und wiederum tausende Kilokalorien für sinnfreien Freizeitsport in die Luft zu blasen hinterlässt einiges an Grundsatzfragen in mir. „

Wenn eine, ja selbst wenn alle meine drei Taschen den Besitzer wechseln würden, könnte man noch sehr sehr lange nicht von gleichen Lebensstandards sprechen, davon sind wir Lichtjahre entfernt. Solange unsere größten Alltagssorgen Dinge sind wie; ob Erdbeer- oder Himmbeerjoghurt, Malediven oder Kanaren, Mineralwasser mit oder ohne Sprudel sollten wir am Boden bleiben.

Vielleich reicht es schon, wenn wir zumindest zufrieden sind. Wir müssen uns noch wirklich lange nicht arm und bedroht fühlen, vor allem wenn du die Augen aufmachst und dorthin schaust, wo begründete existenzielle Sorgen den Alltag beherrschen, dann wird es dir klar werden!

 

 

“ Meine allzu utopische, aber gerne daran klammernd und mich rechtfertigende bequeme Lieblingslösung wäre die Existenz einer energielosen Fortbewegung in einer friedlichen und in einer allen gleich und wohl gestellten Welt-Gesellschaft . . . aber das hast du bei der letzten „Miss Austria“-Wahl und am Wunschzettel ans Christkind sicherlich schon gelesen. WELTFRIEDEN! „



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BONUSMATERIAL

 

VERY Best of von Rolando Garibotti – Dörte Pietron (Buchautoren von Patagonia Vertical) – wirklich gelungene und pointierte Formulierungen, die mir in Erinnerung geblieben sind, als ich an den unzähligen Schlechwettertagen immer und immer wieder unermüdlich das Guidebook durchschmökerte:

„Long, steep and hard; a route from a time when men were far braver than today.“

„Ermanno Salvaterra; Most devoted and committed lover, Cerro Torre ever had.“

„…Maestri claimed and still claims to be on the summit by the east and north sides in 1959. Maestri climb over an mystical ice shield…nobody find it again“

„First accent Via Del Compresor (Compressor Route)… Jim Bridwell – Steve Brewer 1/1979“ Die Pointe liegt zwischen den Zeilen!

„If we accept such a pathway (das Bohren der Maestri-Bolts), because some of us, who wouldn’t otherwise have the necessary skills to climb the peak, might enjoy reaching the summit, then it could be argued that the mountain should be made accessible to those who don’t climb at all.“ Frei nach Paul Preuß „Das Können ist das Dürfens Maß“

„A Helikopter fleh overhead, filming the pair for most of the ascent and a camerman and two mountain guides were at the summit documenting the climb. Both physical and psychologically this a