Friluftsliv (norw.) = Freiluftleben

Ein kurzer Abriss über eine Lebenseinstellung aus Skandinavien

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Jede*r von uns, der das Draußen-Sein zelebriert (ob nun mit seinem Zelt an einem einsamen Strand, in einer kalten Biwaknacht am Berg oder beim Radlfahren im Regen), weiß vielleicht um den Flow des Seins, dieses tiefe Gefühl der Zufriedenheit. Es fühlt sich da draußen in der Natur, am Fels oder  im Schnee oftmals alles so richtig an, fern von Verpflichtungen, Sorgen und Alltagsstress. Wir atmen dieses Gefühl tief ein und lassen uns inspirieren zu einer historisch-philosophischen Reise nach Norwegen, wo das Allmannsretten (Jedermannsrecht) allen Menschen bedingungslos die Begegnung mit der Natur ermöglicht.

 

In Norwegen entsprang “Friluftsliv”, was wörtlich übersetzt Freiluftleben heißt. 

 

Norwegen ist eines der dünn besiedeltsten Ländern (auf 1 km² kommen 14 Einwohner*innen) mit endlos weiten unberührten Naturlandschaften. Friluftsliv ist dort in der Kultur und Geschichte tief verwurzelt und heute im Gesetz verankert.

Es ist schwer, eine trennscharfe Definition für Friluftsliv zu finden. 

Im „Atlas of Happiness“ wird Friluftsliv als „ungezwungene Lebensart im Einklang mit der Natur“ beschrieben, die „unsere gefühlte Seelenverwandschaft zu wilden und natürlichen Gegenden“ ausdrückt. „Diese Naturverbundenheit kann nicht nur Freude bereiten, sondern uns auch verändern“, ja, es kann „sogar ein quasi-religiöses Gefühl für gesteigertes Bewusstsein und mehr Ganzheit des Seins vermitteln.“

Swantje Bittner nennt Kriterien wie im Freienachtsam und umweltbewusstnicht motorisiertkein Konkurrenzdenkenkörperlich und intellektuell forderndmöglichst einfach und puristisch für Frilfutsliv.

Für den Friluftsliv-Pionier Fridtjof Nansen (1861-1930) bedeutete es “das freie, einfache Leben, in frischer Luft, das uns das Privileg wiedergibt, das zu tun, was die ursprüngliche Bestimmung des Menschen ist” (Nansen, 1916). Die Erfahrung in und mit der Natur wird als zentraler Lebenssinn angesehen. Nils Faarlund, Gründer von Norges Høgfjellsskole* und einer der einflussreichsten Friluftsliv-”Lobbyisten” der letzten Jahrzehnte, schlägt eine Werteorientierung vor, um ein Verständnis von Friluftsliv zu entwickeln. Inspiriert von Rousseau und entstanden in der Epoche der Romantik transportiert es deren Werte wie Gefühl, Intuition, Leidenschaft, Erlebnis, Genuss, individuelle Freiheit, Sehnsucht, Fantasie, Träume, Idealismus, schöpferisches Wirken, Mystik, das Irrationale und Unbewusste als “Kiel und Ruder für Denken und Taten”. Friluftsliv birgt die Möglichkeit, die “wahre” Schönheit der Wildnis zu erkennen und somit einen Weg zu sich selbst zu finden.

 

Friluftsliv meint die gemeinsame Gestaltung einer achtsamen Zeit, eine „unnützliche“ Beschäftigung in und mit der Natur. 

 

Damit einhergehend wendet sich Friluftsliv als “Kind der Romantik” kritisch gegen Ideen von Konkurrenz, gegen Rationalismus, die Aufklärung, das Etablierte, das Bürgertum, das Konservative, das ehrgeizige Streben nach wirtschaftlicher Effizienz und gewinnorientierter Funktionalität. Vor allem nach dem 2. Weltkrieg bekommt Friluftsliv eine starke gesellschaftskritische Haltung. Die Ausbeutung der Welt erreicht mit der zunehmend globalisierten Wirtschaftswelt und Macht der Unternehmen immer wieder neue Höhepunkte. Nicht nur der Widerstand gegen die Naturzerstörung, auch das “Mahnen” eines umweltbewussten und naturfreundlichen Lebensstil wird immer mehr zu seiner Aufgabe. Sigmund Kvaloy Setreng (1934-2014) und Arne Nass (1912-2009), “hartnäckige Gegner aller Auswüchse von Ökonomisierung und Wachstumsgesellschaft”, bekennende Umwelt-Aktivisten und eine der Hauptakteure der “modernen “ Friluftsliv-Szene,  etablierten Ende des letzten Jahrtausends die ökophilosophische Bewegung, welche das Entwickeln von öko-sozialen Lebensformen und Möglichkeiten für ein Leben im Einklang mit Mensch und Natur sprichwörtlich “lebte”. Für Arne Nass war Friluftsliv ein Lebensstil-Konzept, um sich bewusst und respektvoll gegenüber der Natur und Umwelt zu verhalten, anstatt “den Planeten für die Befriedigung von menschlichen Luxusbedürfnissen” zu missbrauchen. Er nannte seinen Ansatz “Tiefenökologie”, heute nennen wir es Nachhaltigkeit oder die Theorie des lebendigen Planeten. Friluftsliv wird somit ebenso als kritischer pädagogischer Ansatz praktiziert

 

Friluftsliv ist keine bestimmte Aktivität, sondern eine Einstellung, eine Lebensphilosophie, eine Haltung. Es drückt tiefe Verbundenheit mit der Natur aus und fordert Empathie für die Umwelt.

 

Friluftsliv wird also “im Tun” stets mitgetragen. Die Erholung von der Zivilisation und die Ausübung körperlicher Aktivitäten in der Natur ist in Norwegen anerkanntes kulturelles Gut und dort im Bildungssystem gut verankert . Schüler*innen haben Friluftsliv als Schulfach, und es gibt unzählige Vereine und Organisationen, die Friluftsliv anbieten (vgl Westersjo, 2007). Friluftsliv hat das Bildungsziel, dass sich Menschen

  • Einstellungen (z.B. Lebensstil, Naturverbundenheit, Umweltbewusstsein…)
  • Fähigkeiten (z.B. Wahrnehmen von Gefahren, Gleichgewichtssinn, …) 
  • Fertigkeiten (z.B. Feuer machen oder Steigeisen richtig anwenden)

aneignen und damit einen “gesunden” und “natürlichen” Zugang zu körperlichen Aktivitäten und Bewegungsformen in der Natur bekommen. So stehen Wildniscamps, Alpinschulen und Outdoor-Unternehmen im klaren Auftrag von Friluftsliv. 

 

Was ist Friluftlsiv heute?

Friluftsliv genießt einen hohen Status in Norwegen und ist bei all Jenen, die das Privileg haben, sich Friluftsliv leisten zu können, ein fester Bestandteil des Lebens. Das “moderne” Friluftsliv hat natürlich nicht vor der touristischen Instrumentalisierung halt gemacht, so steht bei vielen Anbietern nicht mehr “nur” das Naturerlebnis und die Lernerfahrung, sondern oftmals auch “Sensation”, “Action” und “Outdoor-Konsum” im Vordergrund. Das traditionelle “romantische” Verständnis rückt durch die Kommerzialisierung oftmals in den Hintergrund.

Allerdings befindet sich die Gesellschaft im steten Wandel. Fridays for Future hat uns gerade aktuell wieder ins Bewusstsein geholt, dass wir Menschen nur einen einzigen Planet Erde haben und für eine lebenswerte Zukunft unser Mindset ändern sollten. So wird Friluftsliv mit dem aktuellen “neo-ökologischen” Zeitgeist zunehmend wieder richtig “hip” und reiht sich gut neben Lebenseinstellungen wie Minimalismus, Work-Life-Balance und Klimabewusstsein ein. 

Friluftsliv bekommt in Norwegen nachwievor starken politischen Rückhalt und wird breit gefördert, es steht im Rahmen von Vermittlung von Kultur und Tradition, der Gesundheitsförderung und Förderung von Umweltbewusstsein auf der politischen Agenda. Auch in der EU und in Österreich bemüht man sich heute in Schule und Universität, mit BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung) auf die globalen Herausforderungen zu sensibilisieren. Aber es scheint so, dass Norwegen schon lange wirklich verstanden hat, dass das “Raus in die Natur” überlebensnotwendig ist, um der “dicken” Luft der Zivilisation zu entkommen und wirklich “freie” Luft atmen zu können (vgl. Hofmann, 2015). So lassen wir uns gerne von einer gelebten Tradition als nur von einem neumodischen Trend inspirieren.

 

Was lernen wir von Friluftsliv für Freiluftleben?

Als Timo von seiner Norwegen-Reise zurückkam, erzählte er ganz inspiriert von diesem besonderen Zugang zur Natur, der Weite und Einsamkeit der Landschaft und dem Jedermannsrecht in Skandinavien. Das Allmannsretten erlaubt ein freies Bewegen, Zelten, Biwakieren sowie Lagerfeuer und Fischen in der Natur. Dies alles natürlich nur unter Berücksichtung eines respektvollen und nachhaltigen Umgang mit der Natur und dieser unglaublichen Freiheit. In Norwegen ist übrigens die Ausübung von Freiluftleben im friluftsloven (Freiluftgesetz) gesetzlich verankert. Dieses Verständnis von Freiluftleben als Grundrecht für alle Menschen hat uns zudem dazu bereichert, unseren Zweig Soziales zu etablieren, der den Auftrag hat, einen Zugang zur Natur und unseren Programmen und somit Teilhabemöglichkeiten für sozial benachteilige Menschen zu ermöglichen.

So war es uns von Anfang an sehr wichtig, nicht nur Programme zu verkaufen, sondern auch eine Haltung und ausgewählte Werte anzubieten. Wir versuchen, diese Haltungin unserer Philosophie wieder zu spiegeln und in unseren Programmen sichtbar werden zu lassen.

 

“If you want to create a nature friendly future, people need to get acquainted with nature and make friends with it.” (Nils Farlund)

 

Natürlich kann man Friluftsliv nicht einfach nach Mitteleuropa übertragen, denn es ist kulturell mit den großen Naturlandschaften Norwegens verwoben. Wir möchten dennoch folgende Dinge hervorheben, die wir bei Friluftsliv besonders lehrreich finden:

  • Erlebnisse teilen und gemeinsam unterwegs zu sein
  • (Un)Sicherheit und Risikobewusstsein leben = qualitativ hochwertige Lehre!
  • Achtsamer Umgang mit Mensch, Natur und Umwelt fördern
  • Das Privileg Freiluftleben Menschen zugänglich machen

So werden wir von Freiluftleben stets neben der Einhaltung hoher Sicherheitsstandards und pädagogischer Güte einen besonderen Wert darauf legen, dass neben der Aktivität auch immer ein Bewusstsein für das Rundherum, für einen Blick neben den Weg, für die Ferne oder für das philosophische Gespräch bleibt. Es liegt uns am Herzen, stets demütig und in tiefer Dankbarkeit ein Erlebnis teilen zu können, sich diesem Privileg immer wieder bewusst zu werden…

*Norges Høyfjellskole: erste Alpinschule Norwegens, gegründet 1967

 

Literatur: